UNESCO-Weltkulturerbestätte Crespi d’Adda

UNESCO-Weltkulturerbestätte Crespi d'Adda

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Der industrielle Boom des 19. Jahrhunderts machte auch vor Italien nicht Halt. Von Nord bis Süd schossen Fabriken förmlich aus dem Boden und revolutionierten mit ihren Produktionsmethoden und der dazugehörigen Infrastruktur das Leben zwischen Stadt und Land. Textilfabrikant Cristoforo Benigno Crespi suchte nach einem neuen Fabrikstandort und baute diesen zu Crespi d’Adda aus. Dieses Textil- und Arbeiterdorf in der Lombardei gilt als Juwel der Industriearchäologie und wurde 1995 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Seit Schließung der Fabrik im Jahr 2004 ist der Standort allerdings bedroht, seine Zukunft offen.

Die Färberdynastie Crespi

Im 18. und 19. Jahrhundert war Crespi ein klingender Name in der italienischen Textilindustrie. Die Färberfamilie baute ihre Vormachtstellung im Laufe der Jahrzehnte aus, expandierte umfassend und setzte auf neue Geschäftszweige. Mit der Herstellung von Baumwollprodukten hatten die Crespi eine wahre Goldgrube entdeckt, eine neue Fabrik musste her. Dafür suchte der 1833 in Busto Arsizio (ca. 35 km südlich von Mailand gelegen) geborene Cristoforo Benigno Crespi nach einem geeigneten Standort.

Crespi erwarb ein Stück Land, ca. 100 km östlich seines Geburtsortes gelegen, und begann mit dem Bau einer Fabrik. Angesichts des etwas abgelegenen Standorts mussten schnell weitere Bauten her, und so entstand ab 1878 eine komplette Planstadt mit Unterkünften und Infrastruktur für Fabrikarbeiter. Sein Sohn und Erbe Silvio Crespi übernahm des Unternehmen im Jahr 1906 und baute es weiter aus. Der junge Crespi galt als einer der einflussreichsten italienischen Industriellen, zählte zu den Unterzeichnern des Friedensvertrags von Versailles und musste seine Firma erst 1929 im Zeichen der Weltwirtschaftskrise und der brutalen faschistischen Finanzpolitik aufgeben. Die Fabrik selbst sollte noch bis ins neue Jahrtausend produzieren.

Ein Dorf auf dem Reißbrett

Cristoforo Benigno Crespi holte modernste Produktionsmethoden aus England in seine Baumwollspinnerei. Dafür benötigte er Wasserkraft in rauen Mengen, und so entschied er sich für eine grüne Wiese auf der Halbinsel Isola Bergamasca, von den Flüssen Adda und Brembo eingerahmt. Auf sein Geheiß wurde ein paar Jahrzehnte später ein eigenes Wasserkraftwerk im wenige Kilometer flussaufwärts gelegenen Trezzo errichtet.

Die Fabrik an sich nahm ihre Arbeit bereits 1875 auf, doch schnell merkte der Großindustrielle, dass die etwas abgelegene Lage suboptimal war – für seine Arbeiter und für Crespi selbst. Unterkünfte und Infrastruktur mussten her, und zwar möglichst schnell. So ließ er neben der Baumwollspinnerei ein kleines Dorf errichten. Mehrparteienhäuser, ein Krankenhaus sowie eine Kirche mit Friedhof, eine Schule (auf dem Stundenplan fand sich natürlich das Fach „Baumwollverarbeitung“), ein Theater und ein Waschhaus wurden in Rekordzeit hochgezogen.

Klingt spektakulär? Was, wenn wir dir verraten, dass Crespi d’Adda außerdem das erste italienische Dorf mit moderner Straßenbeleuchtung war? Noch im 19. Jahrhundert machte sich Crespi Edisons Beleuchtungskonzept zu eigen und sorgte für mehr Helligkeit entlang der Wege. Durch dieses freundliche Schimmern bei Nacht erhöhte er nicht nur die Produktivität seiner Fabrik, sondern gleichzeitig die Lebensqualität im Dorf. Sein Sohn sollte Crespi d’Adda allerdings zu noch größeren Höhen führen.

Silvio Crespis Planstadt-Evolution

Cristoforos Sohn Silvio unternahm viele Reisen, bevor er sich um die Geschicke des Unternehmens kümmern dürfte. Einer dieser Trips führte ihn ins britische Oldham, ein weiterer Hotspot der Textilindustrie im 19. Jahrhundert. Hier holte er sich nicht nur Knowhow um neue Produktionstechniken und Formen der Arbeitsteilung, sondern ließ ebenso den industriellen Charme der Stadt auf sich wirken und fand neue Inspiration für den weiteren Ausbau von Crespi d’Adda.

Silvio Crespi sah Missstimmung und Unzufriedenheit als größtes drohendes Problem seines geerbten Industriedorfs. Deswegen verabschiedete er sich langsam aber sicher von den Mehrparteienhäusern und begann ab 1892 mit der Errichtung neuer Arbeiterunterkünfte. Crespi d’Adda erhielt unter seiner Führung Einfamilienhäuser mit Gärten. Diese sollte für mehr Harmonie und Ausgeglichenheit sorgen. Tatsächlich gab es in den gesamten 50 Jahren der Crespi-Familienleitung weder Streiks noch gröbere soziale Spannungen.

Führung durch Crespi d’Adda

Wenn du heute nach Crespi d’Adda reist, triffst du auf einen Ort, in dem die Zeit stehengeblieben ist. Seit den 1920er Jahren hat sich das Dorf kaum verändert. Spätere Eigentümer verkauften einen Großteil der Häuser an (ehemalige) Arbeiter und seit 2004 liegt die Fabrik komplett still. Mittlerweile wohnen nur mehr ca. 450 Menschen, größtenteils Hauseigentümer, in der einst florierenden Planstadt.

Klingt nach einer Geisterstadt? Nicht ganz, denn noch leben mehr als genug Menschen hier. Das Dorfleben ist durchaus lebendig und so solltest du dich bei der Besichtigung an lokale Gepflogenheiten halten – am besten im Rahmen einer geführten Tour, denn dein Guide weiß am besten, welche Plätze und Gebäude du tatsächlich besuchen kannst, begleitet von spannenden Informationen zur eindrucksvollen Geschichte dieses Vorzeigedorfes.

Schnurgerade, wie mit dem Lineal gezogene Straßen, sorgsam aufgereihte Einzelhäuser mit dem jeweils gleichen niedrigen Begrenzungszaun und einem Gemüsegarten, das Ortsbild von hoch aufragenden Fabrikschornsteinen geprägt – kein Wunder, dass Crespi d’Adda als Idealbildnis der Industriestadt galt und gilt. Etwas weiter südlich findest du die Villen der höheren Angestellten und der Betriebsführung, das alte Badehaus – mittlerweile zum Hallenbad umgebaut – die kleine Renaissance-Kirche (eine exakte Kopie der Kirche aus Crespis Heimatort Busto Arsizio) und den großen Arbeiterfriedhof mit Familienmausoleum. Durch dieses Dorf zu spazieren, ist ein unwirkliches Erlebnis, faszinierend und wunderschön, aber auch auf gewisse Weise beklemmend. Wie lange das noch möglich sein wird, ist aktuell offen.

Die Zukunft von Crespi d’Adda

Hinter dem Status als Weltkulturerbestätte steht aktuell allerdings ein großes Fragezeichen. Die UNESCO beharrt auf der Erhaltung des Status Quo als industrielle Planstadt und würde am liebsten wohl neue Fabrikbesitzer oder aber die Einrichtung von kulturellen und forschenden Institutionen sehen. Wie zeitgemäß und realistisch dies ist, sei wohl dahingestellt. Laufend bekunden Investoren ihr Interesse an Crespi d’Adda, wollen jedoch große Hotelanlagen auf dem ehemaligen Fabrikgelände errichten.

Seit 2013 bemüht sich der Unternehmer Antonio Percassi um Crespi d’Adda. Der ehemalige Spieler und Präsident des Fußballvereins Atalanta Bergamo arbeitete mehrere Jahrzehnte eng mit Benetton zusammen, gründete verschiedene Kosmetikfirmen und ließ ein großes Einkaufszentrum in der Region erbauen. Percassi möchte den Ort zum Hauptquartier seines Firmenimperiums und seiner Familienstiftung umbauen lassen. Damit stößt er allerdings auf wenig Gegenliebe, das Projekt liegt aktuell mangels entsprechender Genehmigungen brach. Eine Annäherung zwischen Politik und Unternehmer wird seit Sommer 2018 wieder versucht, bislang jedoch ohne nennenswertes Ergebnis.

Was auch immer mit Crespi d’Adda in der nahen oder fernen Zukunft passieren wird, dieses Idealbild der Industriesiedlung ist auf jeden Fall einen Besuch wert. Lass dich von der einzigartigen Planstruktur verzaubern, besuche die sympathischen kleinen Straßen und erlebe den ungewöhnlichen wie eindrucksvollen Kontrast zwischen niedlichen Arbeiterhäusern, ausladenden Villen und mächtiger Fabrikarchitektur hautnah. Viel Spaß bei deiner Tour!

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