Ivrea, Industriestadt des 20. Jahrhunderts

Ivrea, Industriestadt des 20. Jahrhunderts, UNESCO

©Bigstock.com/Jorge Anastacio

Würdest du die Stadt Ivrea im Piemont, am Nordrand der Po-Ebene zwischen Turin und dem Aostatal gelegen, von oben betrachten, fiele dir die Zweiteilung durch den Fluss Dora Baltea auf. Im Norden befindet sich die Altstadt mit den Überresten eines römischen Amphitheaters, dem imposanten Schloss des Savoyer-Grafen Amadeus VI. sowie der eindrucksvollen Kathedrale, die im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Umbauten erfuhr. Der Süden beherbergt hingegen eine Industriestadt, die mit Gründung der Firma Olivetti sukzessive aus dem Boden gestampft wurde und die Entwicklung Ivreas vorantrieb. Am 1. Juli 2018 erklärte die UNESCO die Industriestadt von Ivrea zum Weltkulturerbe. Mit seinen 27 Gebäuden gilt dieser Komplex als Vorreiter der Corporate Architecture und zeigt dir eine andere Seite des italienischen Nordens.

Schreibmaschinen, Taschenrechner, Bürocomputer

Ein Blick auf die Weltkulturerbestätte Ivrea wäre ohne eine kurze Auseinandersetzung mit der Unternehmensgeschichte von Olivetti undenkbar. Die Firma wurde im Jahr 1908 von Camillo Olivetti gegründet. In einer kleinen Ziegelbau-Werkstätte am Stadtrand entwickelte er mit einigen Technikern in dreijähriger Arbeit die Schreibmaschine „M1“, 1911 auf der Turiner Industrie-Ausstellung vorgestellt. Olivettis Schreibmaschine wurde zum gefeierten Erfolg, die Expansion folgte. 1920 zählte man 200, 1933 rund 800 und im Kriegsjahr 1940 sogar 6000 Arbeiter. Das Unternehmen warb seine Arbeitnehmer gezielt aus der Region Ivrea an – sie machten einst 90 % der gesamten Belegschaft aus – und entwickelte bereits 1909 ein revolutionäres Sozialsystem von der Betriebskrankenkasse über Kindergarten und Mütterfürsorge bis zu Urlaubsheimen, kultureller Betreuung und Begabtenförderung.

Camillo Olivetti, Sohn einer jüdischen Familie, überschrieb das Unternehmen seinem Sohn Adriano, um der faschistischen Enteignung zu entgehen. Dieser führte einen neuen Managementstil ein und erklärte die Gestaltung zum wesentlichen Olivetti-Merkmal. Zuvor eingeführte Büromöbel-Linien sowie die portable Schreibmaschine MP1 „Ico“ hatten sich bereits in diese Richtung bewegt, später wurde auf dunkelgrauen Strukturlack umgestellt. Olivetti stieg 1948 in den elektronischen Rechnermarkt ein, produzierte 1959 die ersten elektronischen Computer mit Transistoren. Adriano Olivetti verstarb 1960 an einem Gehirnschlag, ein Streit unter seinen sieben Erben entbrannte, durch den Tod des Unternehmenspräsidenten Giuseppe Pero weiter angefacht. Die Firma geriet nicht zum letzten Mal in finanzielle Schräglage, mehrere Neuausrichtungen – Elektronik, Computer, Telekommunikation – erreichten nur kurzfristige Erleichterungen. Durch die Übernahme der Telecom Italia im Jahr 2003, nunmehr der neue Dachkonzern, stabilisierte sich Olivetti und überraschte vor zehn Jahren sogar mit dem Wiedereinstieg in den Computer-Markt.

Movimento Comunità

Der soziale Aspekt war für Olivetti immer schon wichtig, ebenso eine klare Corporate Identity. Wichtigen Einfluss auf die Gebäude der UNESCO-Weltkulturerbestätte übte die „Movimento Comunità“ (dt. „Gemeinschaftsbewegung“) aus. Basierend auf dem Buch „L’Ordine Politico delle Comunità“ (dt. „Die politische Ordnung der Gemeinschaft“) von Adriano Olivetti, wurde sie 1947 ins Leben gerufen. Sie verlangte die Neuordnung des Landes in autonome Gemeinden, vereint durch einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund. Im Gegensatz zu anderen Industriellen erkannte Olivetti die Notwendigkeit der Angestelltenabsicherung und der Bereitstellung sozialer Leistungen. Mit der Verfügbarmachung von Wohngebäuden zu sozialen Zwecken trug er den rasanten industriellen – und somit auch sozialen – Veränderungen des 20. Jahrhunderts Rechnung. Daher ist dieses Welterbe für die UNESCO nicht nur architektonisch beeindruckend, sondern ebenso als Zeugnis der Ideengeschichte dahinter – obwohl die Funktionen der meisten gewerblichen Gebäude in jüngerer Vergangenheit deutlich zurückgegangen sind.

Außergewöhnliche Architektur im industriellen Wandel

Ivrea, Industriestadt des 20. Jahrhunderts

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Obwohl die AEG bereits in den 1910er Jahren Gebäude laut Corporate Identity entwerfen ließ, gilt Olivetti als Corporate-Architecture-Pionier. In den 1930ern eingeführt, erfüllten diese Gebäude nicht nur soziale Funktionen, sie stifteten zudem Identität, sorgten für Markenbewusstsein und Wiedererkennungswert, und erhöhten dadurch die Arbeitsproduktivität. Das einzigartige Zusammenspiel des Olivetti-Komplexes – unter der Leitung Adriano Olivettis mit führenden italienischen Architekten vor dem Hintergrund seiner politischen und sozialen Ideen erarbeitet und errichtet – symbolisiert eine Industrie im Wandel. Mechanisches wurde digitalisiert, neue Produktionsmechanismen eingefügt, soziale Veränderungen einbezogen. Jedes Gebäude, jeder Teil dieses Komplexes ist komplett durchdacht, spiegelt die Firmenidentität wider und fügt sich dennoch nahtlos in das Stadtbild ein. Nicht umsonst wurden Olivettis Bauten wichtige Ankerpunkte der Entwicklung der Theorien der Industrialisierung sowie der Urbanisierung im 20. Jahrhundert.

27 Gebäude, ein Weltwerbe

70.000 ha Grund, 145.000 m² überbaute Fläche, von denen 17 % als Wohnungen dienen – der Olivetti-Komplex nimmt geradezu monumentale Dimensionen an. Die Weltkulturerbestätte besteht aus 27 Gebäuden, heute vielfach anderweitig verwendet. Dazu zählen das Heizwerk und die Tischlerei, das ehemalige Sertec-Gebäude sowie die Sozialwohnung Borgo Olivetti, das Gebäude 18 alloggi und die Wohnanlage-West, die erst im Jahr 1968 geplant wurde. Sie alle tragen die Handschrift namhafter Architekten und sind zudem urtypisch für den Olivetti’schen Stil, welcher die Welt der Corporate Architecture bis heute prägt. Dass Vater und Sohn ihrer Zeit voraus waren, zeigt der Firmenkindergarten. Die 1939 konzipierten Räume werden auch heute noch zur städtischen Kinderbetreuung genutzt.

Natürlich gibt es mittlerweile deutlich auffälligere, schillerndere Firmengebäude, von wilden Designideen und ausladenden Dimensionen begleitet. Und doch hat Ivreas Industriekomplex auch heute noch etwas Besonderes, etwas Einzigartiges an sich. Erlebe Italiens Wandel im Zeichen der Industrialisierung hautnah bei einem kleinen Rundgang durch den Süden der Stadt und besuche bei der Gelegenheit auch gleich die Altstadt im Norden mit ihren nicht minder packenden Zeitzeugen. In Ivrea erlebst du mehr als zwei Jahrtausende wechselhafter Geschichte im Zeitraffer.

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