Was ist eigentlich heute noch von der Steinzeit übriggeblieben? Nun, wirst du dir denken, ein kleiner Abstecher ins nächste Museum sollte doch ein paar Relikte und Werkzeuge zu Tage fördern. Was aber, wenn es eine ganze Stadt gibt, die seit über 9000 Jahren ununterbrochen bewohnt wird? In der süditalienischen Region Basilikata, ca. 200 km östlich von Neapel gelegen, erwartest du dir nach dieser Beschreibung wahrscheinlich ein Open-Air-Museum. Tatsächlich leben aber nach wie vor 60.000 Menschen in Matera. Einige von ihnen renovieren die Sassi, die seit 1993 zum Welterbe der UNESCO zählen, und schaffen sich ein kleines Zuhause in ihnen. Klingt komisch? Aber hallo!
Von der Steinzeitsiedlung zur Kulturschande
Wann die Sassi, so der Name der Höhlensiedlungen, genau entstanden sind, liegt heute im Verborgenen. Funde lassen auf jungsteinzeitlichen Ursprung schließen, was Matera zu einer der ältesten Städte der Welt machen würde. Einzig in China gibt es wohl einen ähnlichen Ort mit Höhlen, die nach wie vor bewohnt werden. Auch wurden jüngere Funde in diesen in Tuffstein gehauenen Behausungen gemacht. Die hier ausgegrabenen Keramiken sind beispielsweise eng mit der frühen Eisenzeit verbunden.
Auch in der nachchristlichen Zeit wurden die Sassi bewohnt, bis sie Mitte des 20. Jahrhunderts schließlich zur nationalen Kulturschande erklärt wurden. Für weite Teile der Bevölkerung war es unvorstellbar, dass manche Menschen immer noch in Felshöhlen ohne Strom oder fließendes Wasser bei katastrophalen Hygienezuständen wohnten. So konnte sich 1948 sogar die Malaria in Matera breitmachen. Die Stadt reagierte und siedelte die Bewohner in modernere Viertel um. Die Höhlen sollten umfassend renoviert werden, verfielen aber. Erst in den späten 80er Jahren begannen entsprechende Arbeiten an den Sassi im Zuge einer großangelegten Wiederentdeckungskampagne, die 1993 sogar die UNESCO auf den Plan rief und die Anlage zum Weltkulturerbe erklären ließ. Heute versucht die Stadt Mieter mit großzügigen Subventionierungsplänen und günstigen Krediten in die Sassi zu locken.
Aufbau und Entwicklung der Sassi
Matera selbst liegt auf einem großen, exponierten Felsen. Der vergleichsweise weiche Tuffstein bot sich in den Anfangszeiten menschlicher Siedlungsgeschichte natürlich als Baumaterial an, da er sich leicht bearbeiten und transportieren ließ. Außerdem war es vergleichsweise einfach, Wohnhöhlen in den vorhandenen Tuffstein zu schlagen. Die ersten Sassi entstanden komplett unterirdisch durch konstante, sukzessive Aushöhlung des Felsmaterials. Mit dem abgetragenen Stein ließ sich die Höhle leicht versiegeln.
Was sich in den ersten steinzeitlichen Siedlungen noch als schlichte Höhle präsentierte, erfuhr im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende konstante Erweiterungen. So fertigten die Bewohner Anbauten an, die in einen Komplex an unterirdischen Räumlichkeiten führten, der ausgeklügelt bewässert wurde. Teile des bereits in der Bronzezeit entstandenen Brunnen- und Bewässerungssystems sind übrigens heute noch sichtbar. Zugleich wurde auf bestehenden Sassi aufgebaut. Dächer wurden zu Böden, unterirdische Siedlungen wanderten sukzessive ans Tageslicht und aufgelassene Höhlen unter der Erde dienten als Steinbrüche für die Vorderfronten der einzelnen Gebäude. Einige dieser Höhlen, die sich mittlerweile überwiegend im Besitz der Stadt befinden, kannst du im Rahmen von Führungen besichtigen.
Park der Felsenkirchen
Nicht nur die Höhlen und Felswohnungen bestehen aus Tuffstein, auch die alten Gebetshäuser wurden seinerzeit in den Felsen gehauen. Ein gewaltiger archäologisch-historischer Naturpark, der bis in das benachbarte Montescaglioso reicht, beheimatet unzählige dieser Felsenkirchen auf einer unglaublichen Gesamtfläche von über 8.000 Hektar. Sie alle zu besichtigen, ist natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, und doch wirst du so manches Tuffstein-Highlight im Rahmen deines Stadtspaziergangs bestaunen können. In San Nicola dei Greci findet beispielsweise eine wichtige jährliche Skulpturenausstellung dar, während Santa Barbara für ihre prächtigen Fresken bekannt ist. Die Felsenkirchen Santa Maria Idris und San Pietro Barsiana sowie die Felsenanlage Madonna delle Virtù solltest du dir ebenso wenig entgehen lassen.
Materas steinerne Geschichtszeugen erstrahlen auch heute noch in hellem Licht, ruppige Felsoptik hin oder her. Anstatt eine Art Disneyland aus den steinzeitlichen Höhlen zu machen, setzte die Stadtverwaltung auf Erhaltung und sanfte Modernisierung – letztlich der richtige Weg, denn die Tuffstein-Höhlen und die wunderschönen Felsenkirchen wären viel zu schade für Kitsch und Massentourismus. Das ZAINOO-Team wünscht dir viel Spaß bei deinem Spaziergang durch das urzeitliche UNESCO-Weltkulturerbe!