100 Sekunden sind eine Menge Zeit, in der viel passieren kann, oder auch nur ganz wenig. Das ist natürlich kein Angriff auf die Männlichkeit, sondern beschreibt vielmehr das vielleicht berühmteste Pferderennen Italiens, den Palio di Siena. An zwei Terminen – am 2. Juli und 16. August – treten je zehn der 17 Contraden oder Stadtteile in diesem spektakulären Wettbewerb, der Jahr für Jahr tausende Besucher aus aller Welt anlockt und dramatischer wie actionreicher Schauplatz für zahlreiche Film-Blockbuster war, gegeneinander an. Was aber steckt hinter diesem traditionsreichen Rennen, dessen Wurzeln bis ins Mittelalter zurückreichen?
Wie alles begann
Die genauen Ursprünge des Palios liegen heute im Dunkeln. Urformen und Vorläufer werden, je nach Interpretation der vorliegenden Belege, zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert vermutet. Im Mittelalter fanden allerlei Spiele und Wettbewerbe auf dem Stadtplatz Piazza del Campo statt, darunter Kampfsport, Ritterspiele und Stierkämpfe. Großanlegte Rennen, die „palli alla lunga“, führten damals durch die ganze Stadt. Als Ferdinando I. de‘ Medici, Großherzog der Toskana, besagte Stierkämpfe im Jahr 1590 verbot, organisierten die Contraden Rennen auf der Piazza del Campo. Diese wurden zunächst auf Stieren, dann auf Eseln und schließlich, seit 1633, auf Pferden geritten.
Zwei Termine und Teilnehmerbeschränkungen
Ursprünglich fand der Palio nur am 2. Juli zu Ehren der Madonna di Provenzano (daher der Beiname „Palio di Provenzano“) statt. Das änderte sich jedoch im Jahr 1701, als erstmals am 16. August zu Ehren der Maria Himmelfahrt („Palio dell’Assunta“) ein zweiter Termin abgehalten wurde. Anfangs noch von der im Juli siegreichen Contrade und daher oft nur alle zwei Jahre veranstaltet, übernahm die Stadt Siena 1802 die Verantwortung für den August-Termin und machte daraus eine jährliche Veranstaltung. Einige Jahrzehnte zuvor, im Jahr 1729, legte Sienas damalige Gouverneurin Violante Beatrix von Bayern die Einteilung der 17 einzelnen Stadtteile (Contraden) neu fest und beschränkte zudem die Teilnehmerzahl pro Rennen auf zehn Contraden.
So funktioniert das Rennen
Seit knapp 300 Jahren sind also „nur“ zehn Contraden pro Rennen zugelassen. Die Teilnehmer setzen sich aus jenen sieben Contraden, die im Vorjahr beim jeweiligen Termin aussetzen mussten, sowie drei weiteren, die per Los ermittelt werden, zusammen. Somit können manche Stadtteile an beiden Jahresrennen teilnehmen, ein Doppelsieg im Juli und August ist jedoch äußerst selten. So ein „cappotto“ (dt. „Mantel“) gelang bislang 17mal, zuletzt 2016 (Lupa), 1977 (Giraffe) und 1933 (Tartuca).
Die Reiter und Pferde sind keiner Contrade zugehörig. Während die Jockeys vom Capitano, dem Mannschaftsführer des jeweiligen Stadtteils, gemietet und bezahlt werden, entscheidet das Los über die Zuweisung der Pferde. Der Renntag selbst beginnt mit einem großen historischen Umzug. Jede der teilnehmenden Contraden präsentiert ihr Wappen und zeigt sich in mittelalterlichen Kostümen. Danach geht es schließlich auf den ca. 300 m langen äußeren Ring der Piazza del Campo, auf dem zuvor ein Spezialbelag aus Sand und Tuff in einer Dicke von ungefähr 20 cm aufgebracht wurde. Auf der nur 7,5 m breiten Bahn geht es eng zu, wenn die zuvor zugelosten Startplätze bezogen werden. Sobald die Startleine („canapo“) ausgelöst wird, geht es auf den ungesattelten Pferden drei Mal rund um den Platz. Schubsereien und gegenseitige Behinderungen stehen in diesem actionreichen, atemberaubenden Rennen an der Tagesordnung. Nach ca. 100 Sekunden ist das Spektakel auch schon wieder vorbei. Es gewinnt jene Contrade, deren Pferd – mit Diadem, aber nicht zwingend mit Reiter – zuerst die Ziellinie überquert. Die Sieger erhalten den Palio, ein Seidenband, und stürzen sich sogleich in oft wochenlange Feierlichkeiten. Danach kehrt Ruhe ein, denn am 17. August, wie man in Siena gerne sagt, kehrt der Winter ein.
Hinter dem Palio di Siena stecken zwei spektakuläre Rennen mit nicht minder begeisternden Festlichkeiten vor und nach den Terminen im Juli und August. Wenn du dabei sein möchtest, solltest du dein Zimmer möglichst weit im Vorhinein buchen, denn rund um das Rennen ist die ganze Stadt meist komplett ausgebucht. Sei live dabei und entdecke die umliegende Toskana mit den Reisetipps auf ZAINOO!